7 Tage und Nächte allein in einem komplett abgedunkelten Raum – klingt für viele wie ein Albtraum. Als ich das erste Mal von einem Dunkelretreat gehört habe, ging es mir ähnlich. Dennoch hat mich die Idee nicht mehr losgelassen und irgendwann stand der Entschluss fest, dass ich mich dieser Challenge stellen möchte. Was dabei herausgekommen ist versetzt mich einmal mehr in Staunen.
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Als ich den Erfahrungsbericht einer Bekannten zu ihrem Dunkelretreat gelesen habe, war ich sofort fasziniert. Gleichzeitig stand für mich fest: das würde ich NIE machen. Wie man sieht ein klassischer Fall von «sag niemals nie» 😉. Diesen Herbst war es nun soweit und auch ich wagte diesen besonderen Schritt in meinen Dunkelraum.
Was ist ein Dunkelretreat genau?
Die Ursprünge dieser Praxis entspringen der tibetischen / asiatischen und indianischen Kultur. Mönche und Schamanen ziehen sich für Tage, Wochen, Monate in die Dunkelheit zurück. Dass Menschen im westlichen Kulturkreis dieser spirituellen Praxis nachgehen, ist eine neuere Erscheinung. Die Umstände im Retreat bilden einen riesigen Kontrast zu unserem reizüberfluteten Leben: man befindet sich allein in einem wirklich komplett abgedunkelten Raum, ohne jeglichen Input, ohne Ablenkung oder Beschäftigung. Durch das Wegfallen aller äusseren Reize bleibt nichts anderes übrig als die eigene Innenwelt. Mehrere Tage ohne Licht zu sein stösst zudem chemische Prozesse im Gehirn an, die einen veränderten Bewusstseinszustand herbeiführen.
Meine Erfahrung
Als ich mich für das Retreat angemeldet hatte freute ich mich besonders auf den Aspekt des Alleinseins – einfach meiner inneren Weisheit lauschen zu können. In den Monaten zwischen der Anmeldung und dem Termin des Retreats gab es in meinem persönlichen Leben viel Umbruch und Fragen, die mich ziemlich aus der Bahn geworfen haben. Ich fühlte mich überhaupt nicht «fit», jetzt auch noch solch eine Extremsituation zu meistern. Mein Angstzentrum spielte verrückt und ich sagte den Retreat sogar fast noch ab. Immerhin hatte ich damit meine grosse Krise schon vor dem Retreat und dafür währenddessen keine mehr.
Damit möchte ich aber nicht propagieren, dass so ein Retreat ein Zuckerschlecken ist. Jede:r macht ohnehin seine individuelle Erfahrung. Die Stille und Dunkelheit bringt aufs Tapet, was sich aus dem Unterbewusstsein zeigen will. Je nachdem, wo wir stehen und wofür wir in dem Moment reif sind, geht es vielleicht um das Aufarbeiten schmerzvoller Erfahrungen, das Bewusstwerden verdrängter Anteile, das Ausgraben abgespaltener Emotionen oder die Öffnung für Einsichten, Visionen und spirituelle Erfahrungen.
Mal abgesehen von den inneren Prozessen läuft natürlich auch ein Prozess in Bezug auf die Situation an sich. Viele haben Angst vor der Dunkelheit und Nichts-Tun existiert in unserer Gesellschaft kaum. Ich war gespannt, wie ich mich durch diese Woche bringe. Werde ich «durchdrehen»? Werde ich mich in Gedankenspiralen, Ängsten, Emotionen verlieren? Werde ich völlig orientierungslos sein und nicht damit umgehen können? In meinem Fall trat nichts davon ein, auch wenn es nicht in jedem Moment einfach war.
Für mich war eine besonders heilsame Erfahrung, dass ich meiner inneren Weisheit vertrauen kann. Ohne dass ich mir konkret eine Intention gesetzt oder irgendwelche Techniken angewendet habe, setzte ein tiefer Selbstheilungsprozess ein. Nicht nur ich, sondern auch alle anderen der Gruppe sind in einer besseren Form aus dem Dunkeln gekommen, als sie hereingegangen sind. Wie faszinierend, dass es eben viel mehr von diesem NICHTS brauchen würde, statt immer etwas im Aussen als Lösung zu suchen!
Auch wenn ich noch vollkommen beflügelt bin und auch während des Retreats viele schöne Erfahrungen und Gefühle hatte, gab es natürlich auch Zeiten, in denen ich überhaupt keine Lust hatte. Keine Lust mehr auf die Langeweile, die Dunkelheit, die Selbstreflexion etc… Zuweilen dachte ich mir: «andere Leute machen schöne Strandferien, und was mache ich hier wieder?». Oft musste ich lachen. Über meine Gedanken, über lustige Situationen wie wenn ich mich mal im Zimmer verirrt habe, ich das Zahnpasta abmessen nicht hingekriegt habe oder einfach generell über die absurde Situation. Ich wusste ja, dass ich jederzeit die Tür öffnen und aus diesem Raum gehen könnte. Vor dem Retreat schaute ich noch diese Reportage eines Teilnehmers, der sagte, er fühlte sich wie eine Sims-Figur, die einfach da steht und wartet. Die Vorstellung, dass wir alle wie Sims-Figuren in unseren Zimmern ohne Licht waren und «eins auf Yogi» machten, liess mich schmunzeln. Humor ist sowieso so eine befreiende Zutat, die wir kultivieren können, ohne dabei die Tiefe zu verlieren.
Was können wir vom Phänomen Dunkeltherapie lernen?
Interessant ist unter anderem, wenn wir uns vor Augen führen, dass das Einsperren von Menschen im Dunkeln als Foltermethode genutzt wurde. Wie kann es also sein, dass fast die gleichen Umstände zu so unterschiedlichen Erfahrungen führen? Natürlich kann man nur schon nicht vergleichen, dass in der einen Situation ein Gewaltakt und in der anderen ein freiwilliger Entschluss dahintersteckt. Zudem bildet die Betreuung in einem Dunkelretreat einen wichtigen Anker. Worauf es jedoch vor allem ankommt, ist unsere eigene Ausrichtung.
Mit welcher Einstellung begegne ich den Herausforderungen, die sich mir stellen?
Bin ich offen dafür, mich selbst und alles, was sich zeigen will, auszuhalten und anzunehmen?
Bin ich bereit, meinen inneren Dämonen ins Gesicht zu sehen und mich mit ihnen zu versöhnen?
Anerkenne und nutze ich meine Stärke und die vielen Ressourcen, die ich bereits habe?
Wie ich es vor allem durch die Psychosynthese lernen durfte, bestätigt sich immer wieder: All unsere Anteile, ob der innere Kritiker, die Ängste, die Unsicherheit o.a. haben einen validen und wertvollen Kern. Was destruktiv geworden ist, können wir jederzeit ins Gleichgewicht bringen, sobald wir aufhören uns dagegen zu wehren.
Ich finde die Erkenntnis wunderschön, dass diese Arbeit zu so positiven Ergebnissen und Heilung führt. Wir sind wahrlich unsere eigenen Lehrer:innen und Schöpfer:innen. Etwas «softer» als in einem Dunkelretreat und vor allem langfristig können wir uns selbst bewusster im Alltag begegnen. Wie gut hältst du es aus, nur schon mal eine Stunde ohne Handy, gänzlich ohne Ablenkung, nichts zu tun und mit dir zu sein? Wenn wir nie aus dem Hamsterrad austreten und unserer Innenwelt die Chance geben, sich zu zeigen, versäumen wir es, diese innere Weisheit überhaupt hören zu können.
In einer Welt, die brodelt und immer schnelllebiger wird, ist es umso wichtiger, uns selbst gut zu schauen. Je mehr wir mit uns selbst im Reinen sind, umso mehr wissen wir um unsere Kraft und schaffen Raum für Intuition und Kreation. Das brauchen wir mehr denn je – denn jede:r von uns kann Wichtiges kreieren, im kleinen persönlichen Wirkungskreis bis zum grossen kollektiven. So führen wir uns als Menschheit gemeinsam immer mehr vom Dunkeln ans Licht.
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